IMI-Analyse 2024/01

Die EU auf Rüstungskurs – Nach dem Coronafonds nun ein Rüstungsbudget?

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 15. Januar 2024

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Die Militärausgaben der europäischen Länder eilen derzeit von Rekord zu Rekord. Nach Angaben der NATO kletterten die Budgets der europäischen NATO-Länder von 236 Mrd. Dollar (2015) auf 375 Mrd. Euro (2023) steil nach oben. Auch über die Europäische Union werden in den letzten Jahren immer relevantere Beträge generiert – EFF, EVF, ASAP, EDIRPA, das sind die wichtigsten Bestandteile der Buchstabensuppe, die für diverse Töpfe stehen, die in jüngster Zeit auf die Schiene gesetzt wurden. Am 27. Februar will die EU-Kommission mit Vorschlägen für zwei neue Rüstungsstrategien – für die Industrie (EDIS) und für Investitionen (EDIP) – weitere Buchstaben hinzufügen. Gleichzeitig artikulierte EU-Industriekommissar Thierry Breton in diesem Zusammenhang auch einen perspektivischen Bedarf für einen EU-Rüstungstopf in dreistelliger Milliardenhöhe.

EVF – EFF – ASAP – EDIRPA

Dass EU-Haushaltsgelder überhaupt für Rüstungszwecke verwendet werden, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Schließlich verbietet Artikel 41 (2) des EU-Vertrages für Maßnahmen der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) „Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ aus dem EU-Haushalt zu bestreiten (siehe IMI-Standpunkt 2019/004).

Schon seit vielen Jahren wurde dieses Verbot zumindest teilweise unterlaufen, etwa über die Finanzierung militärrelevanter Sicherheitsforschung oder die Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe. Zum endgültigen Tabubruch kam es aber erst mit der Einrichtung des „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF), der einige Zeit im Zentrum der europäischen Rüstungsbemühungen stand. Dabei handelt es sich um einen für die Jahre 2021 bis 2027 mit rund 8 Mrd. Euro befüllten Topf, mit dem die Erforschung und Entwicklung länderübergreifender Rüstungsprojekte aus dem EU-Haushalt finanziert werden kann. Trotz erheblicher rechtlicher Vorbehalte und einer bis heute beim Bundesverfassungsgericht herumliegenden Klage der früheren Linksfraktion wähnt sich die Kommission juristisch auf der sicheren Seite. Sie greift dabei auf den Trick zurück, den EVF (und fast alle später beschlossenen Fonds) als Maßnahmen der Industriepolitik zu erklären, wodurch sie nicht unter das Verbot von Artikel 41 (2) fallen würden.

Ein zweiter Topf, der vor allem in jüngster Zeit immer weiter an Bedeutung gewann, ist die „Europäische Friedensfazilität“ (EFF). Sie dient der Finanzierung von EU-Militäreinsätzen und der Aufrüstung befreundeter Akteure, wofür ursprünglich zwischen 2021 und 2027 5,7 Mrd. Euro vorgesehen waren. Die EFF wurde bewusst als haushaltsexternes Finanzinstrument konzipiert, wodurch sie nicht Teil des EU-Haushalts ist, sondern mit Geldern der Einzelstaaten befüllt wird, weshalb auch sie nach Auffassung der Kommission nicht von Artikel 41(2) des EU-Vertrages betroffen ist. Seit dem russischen Angriff entwickelte sich die EFF schnell zum zentralen europäischen Finanzierungsinstrument für Waffenlieferungen an die Ukraine, weshalb immer wieder Gelder nachgeschossen werden mussten, zuletzt wurde der Betrag im Juni 2023 auf rund 12 Mrd. Euro angehoben. Im Raum steht zudem die Forderung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, bis 2027 über die Friedensfazilität weitere 20 Mrd. für Waffen an die Ukraine zu mobilisieren.

Im Juli 2023 trat dann als Teil des EU-Munitionsplans auch die „Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Förderung der Munitionsproduktion“ (engl. ASAP) in Kraft. Mit insgesamt 1 Mrd. Euro, 500 Mio. aus dem EU-Haushalt und ebensoviel von den Mitgliedsstaaten, sollen Maßnahmen wie die „Optimierung, Modernisierung, Verbesserung oder Umwidmung vorhandener oder die Schaffung neuer Produktionskapazitäten in diesem Bereich [Munitionsproduktion] sowie die Schulung von Personal“ unterstützt werden. Zeitlich ist das als Mittel der Industriepolitik deklarierte Instrument bis Ende 2025 befristet, finanziell geht es noch um relativ überschaubare Beträge und das Ganze ist bislang auch auf die Munitionsproduktion beschränkt. Aber dennoch greift die EU damit direkt als Akteurin in den Rüstungsproduktionsprozess ein, weshalb Industriekommissar Thierry Breton zu Protokoll gab: „[Der Munitionsplan ist] beispiellos [und] zielt darauf ab, mit EU-Geldern den Ausbau unserer Verteidigungsindustrie für die Ukraine und für unsere eigene Sicherheit direkt zu unterstützen […]. Um die Ukraine kurzfristig zu unterstützen, müssen wir weiterhin aus unseren Beständen liefern. Aber wir müssen auch die derzeitige Produktion neu priorisieren und sie vorrangig in die Ukraine leiten. […] Aber wenn es um die Verteidigung geht, muss unsere Industrie jetzt in den Kriegswirtschaftsmodus wechseln.“ (Thierry Breton, EU-Industriekommissar, euractiv, 3.5.2023)

Als vierter zentraler Rüstungstopf existiert schließlich seit Oktober 2023 das „Instrument zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung“ (engl. EDIRPA). Mit EDIRPA wird es nun erstmals möglich, auch länderübergreifende Rüstungsbeschaffungsmaßnahmen mit insgesamt 500 Mio. Euro aus dem EU-Haushalt zu bezuschussen. Wie schon den EVF und ASAP tarnt die Kommission auch EDIRPA als industriepolitische Maßnahme, obwohl auch hier der Ausbau militärischer Kapazitäten klar im Vordergrund steht. Auch wenn es hier ebenfalls erst einmal um vergleichsweise überschaubare Beträge mit einer Befristung bis Ende 2025 geht, gelang hier ein weiterer Türöffner, worauf auch Michael Gahler (CDU), der außenpolitische Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament, begeistert mit folgenden Worten hinwies: „Die heutige Abstimmung markiert einen historischen Moment für die EU-Verteidigung und schafft das erste EU-Instrument für die gemeinsame Beschaffung durch die Mitgliedstaaten. […] Angesichts einer historischen Krise kann EDIRPA jedoch nur ein Ausgangspunkt für eine weitaus ehrgeizigere gemeinsame Verteidigungsagenda sein.“ (Michael Gahler (CDU/EVP))

Werbetrommel für EU-Rüstungstopf

Trotz ihres bahnbrechenden Charakters sind ASAP und EDIRPA wegen ihrer diversen Beschränkungen noch nicht der ganz große Wurf. Der hätte eigentlich durch die Vorlage einer EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie (engl. EDIS) und ein EU-Verteidigungsinvestitionsprogramm (engl. EDIP) bereits im November erfolgen sollen. Aus ungeklärten Gründen kam es aber zu Verzögerungen, als neuer Termin wurde nun der 27. Februar 2024 angekündigt. Ziel scheint es dabei zu sein, die zeitlichen und teils funktionalen Beschränkungen von ASAP und EDIRPA mit den neuen Instrumenten zu beseitigen und für Rüstungsproduktion und -Beschaffung dann höhere Beträge als bislang geplant zu mobilisieren.

Hierfür wird aktuell intensiv die Werbetrommel gerührt. Unklar ist dabei, in welcher Giftküche der Vorschlag für einen EU-Rüstungstopf maßgeblich zusammengekocht wurde. Schon im Sommer letzten Jahres wurde aber zum Beispiel im Flaggschiff des deutschen außenpolitischen Establishments, der „Internationalen Politik“, Folgendes gefordert: „Höhere Verteidigungsausgaben, gemeinsame Waffenlieferungen für die Ukraine, neue EU-Rüstungsinitiativen und ein klares, gemeinsames Bekenntnis zur Bündnis- und Landesverteidigung: Die Europäer haben ihre Verteidigungszusammenarbeit seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg zwar deutlich vertieft – doch für eine wirkliche Verteidigungswende bedarf es mehr. […] Die Schaffung eines schuldenfinanzierten EU-Sondervermögens nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds mag derzeit ebenfalls unrealistisch erscheinen. Dies könnte aber im Zuge der Diskussionen rund um den nächsten EU-Haushalt erneut in Erwägung gezogen werden. Die US-Präsidentschaftswahlen 2024 könnten den nötigen Anstoß geben.“ (Nicole Koenig / Leonard Schütte: Verteidigungswende jetzt! Internationale Politik, 28.8.2023)

Ende November 2023 wurde dann berichtet, diese Idee werde inzwischen in Brüssel eifrig diskutiert: „Europa hat die Möglichkeit eines Trump-Comebacks lange verdrängt, doch inzwischen lässt sich das Risiko nicht länger leugnen. Hinter verschlossenen Türen wird in Brüssel deshalb diskutiert, einen neuen Milliardenfonds aufzulegen – nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbauplans ‚Next Generation EU‘. Der entscheidende Unterschied: Dieses Mal sollen die Mittel nicht in Klimaschutzmaßnahmen, sondern in die Aufrüstung fließen.“ (Handelsblatt, 27.11.2023)

Inzwischen wird die Idee auch von höchsten Stellen unterstützt, besondere Beachtung fand dabei die am 9. Januar 2024 erfolgte Äußerung von Industriekommissar Thierry Breton, die er im Zusammenhang mit der geplanten Vorstellung von EDIS und EDIP tätigte – sogar ein genaues Preisschild lieferte er gleich mit: „Um sicherzustellen, dass die gesamte Industrie mehr und mehr zusammenarbeitet, brauchen wir Anreize […]. Ich glaube, dass wir einen riesigen Verteidigungsfonds brauchen, um zu helfen, ja sogar zu beschleunigen. Wahrscheinlich in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro […]. Nehmen wir an, Sie arbeiten zusammen, so wie wir es beim Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) getan haben – vier Länder, verschiedene Unternehmen, einschließlich kleiner und mittlerer Unternehmen -, dann können wir Ihnen helfen, das, was Sie tun werden, im Voraus zu unterstützen.“ (Thierry Breton, EU-Industriekommissar, 9.1.2024)

„Paradigmenwechsel in der Verteidigungsindustrie“

Der Fonds solle den Ausbau industrieller Fähigkeiten und den Ankauf und Betrieb gemeinsameren Rüstungsgüter unterstützen: „Das Problem, das wir haben, ist, dass wir jetzt unsere Produktionskapazitäten erhöhen müssen, vielleicht mit einem Paradigmenwechsel in der Verteidigungsindustrie“, so Breton. „Wir müssen in der Lage sein, zu intervenieren, um sicherzustellen, dass wir den Herstellern helfen, die Produktion zu steigern, auch wenn sie die Verträge noch nicht haben – wir sind bereit, einen Teil des Risikos zu übernehmen.“

Wann und ob der Fonds tatsächlich vorgeschlagen wird, steht aktuell noch nicht fest, unmittelbar scheint es bei den Vorschlägen für EDIP und EDIS erst einmal noch um deutlich kleinere Summen zu gehen. Aus einer Reuters-Nachricht lässt sich schließen, Breton beabsichtige nun zunächst einmal „nur“ den bislang für ASAP und EDIRPA ausgelobten Betrag von 1,5 Mrd. Euro auf 3 Mrd. Euro zu verdoppeln. Es sei dann an der nächsten EU-Kommission, die spätestens wohl Anfang 2025 die Arbeit aufnehmen wird, darauf aufbauend am ganz großen Finanzrad zu drehen, schreibt das Handelsblatt, ebenfalls Breton zitierend: „Zunächst will er Ende Februar ein neues Subventionsprogramm, das European Investment Defence Program (EDIP), vorschlagen. In der kommenden Legislaturperiode nach der Europawahl im Juni solle die neue Kommission dann größer denken und den 100-Milliarden-Fonds angehen. […] Der 100-Milliarden-Fonds sei keine Entscheidung für die nächsten drei Monate, aber sie müsse ‚frühzeitig‘ in der nächsten Legislaturperiode fallen. Das Geld solle dann für fünf Jahre reichen. ‚Verteidigung wird ein großes Thema für die nächste Kommission‘.“

Aller Wahrscheinlichkeit wäre ein solcher Fonds schuldenbasiert, wie etwa auch das Sondervermögen der Bundeswehr oder der EU-Coronafonds. Es wird abzuwarten bleiben, ob die nächste Kommission den Vorschlag aufgreifen und ob er dann bei den Staaten genug Unterstützung finden wird. Die Grundlagen, dass dies überhaupt in den Bereich des Möglichen rückt, dürften aber bereits Ende Februar 2024 gelegt werden, wenn mit EDIP und EDIS der Weg zur Finanzierung von Produktion und Ankauf von Rüstungsgütern freigemacht werden soll. Wenn alle diesbezüglichen bislang noch vorhandenen Beschränkungen aus dem Weg geräumt würden, käme dies dem von Breton beschworenen „Paradigmenwechsel in der Verteidigungsindustrie“ recht nahe. Sind die diesbezüglichen Widerstände dann erst einmal eingeebnet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es dann sehr bald um noch einmal ganz andere Beträge gehen wird.

Dieser Artikel ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines Beitrags, der zuerst bei Telepolis unter dem Titel „Explosives Wachstum: Europas Militärausgaben im Aufwärtstrend“ erschien.